Hunger auf Neues – Das LesArt-Festival mit Raab und Zelter im Literaturhaus Dortmund

Meine Kumpels aus dem Kunstbetrieb kennen es nicht und der Taxifahrer, der um die Ecke wohnt und mich zu einer Lesung in das Literaturhaus Dortmund fährt, auch nicht. Merkwürdig, denn die Oase des geschriebenen wie gesprochenen Wortes im Kreuzviertel, Neuer Graben 78, ist nicht nur durch sein smartes Interieur, sein Bücher- und Leseangebot und die offenen sowie sympathischen Betreiber ein Kleinod in der kulturellen Landschaft des Ruhrgebiets. Hier finden im kleinen Rahmen Lesungen statt abseits lokalen Klüngels und fern ab literarischer Arbeitsproben eines saturiert-gelangweilten Bildungsbürgertums, das ebenso Aquarelle oder Modeschmuck könnte herstellen wollen. Vielmehr ist das gemischte Publikum zwischen Zwanzig und Sechzuig hier hungrig auf Neues, auf frische Worte und Ideen.

Die gibt es beim jährlichen LesArt-Festival zuhauf. Der Verein für Literatur hat zwischen dem 5. und 15. November für ein umfangreiches Literaturprogramm im Domicil, Theater Fletch Bizzel, der Hauptsparkasse, im Hoesch-Museum, in der Umkleidekabine des BVB, in der Stadt- und Landesbibliothek und weiteren Spots gesorgt. 20 weitere Gäste und mich motivieren am Samstag, 7. November, nicht so sehr die Bestseller-Autoren, die ein Festival auch braucht, um überleben zu können, sondern mehr die Neugierde auf die beiden Schriftsteller Thomas Raab und Joachim Zelter sowie ihre Bücher im Literaturhaus.

raab

Von Thomas Raab hatte ich im Laufe meiner Studien in musikalischen und philosophisch-sozialen Diskursen bereits gehört. Sein Buch „Avantgarde-Routine“ habe ich in einem Atemzug verschlungen. Raab behauptet, dass es keine Kunst-Avantgarde mehr gibt, die Vorreiterfunktion von Kunst sei verloren, Individualität in den jeweiligen Szenen biologisch und gefühlt zwar gegeben, aber de facto sei jeder kultureller Akteur auch in der nächst besten Stadt und ihrer Subkultur wieder fast genauso anzutreffen. In „Die Netzwerk-Orange“ (Verlag: Luftschacht) treibt Raab die seit den Neunzigern beliebte Subjektkritik weiter und bildet gleichermaßen eine Linie an den gerade angesagten spekulativen, realistischen und auch akzelerationistischen Gedankenfiguren. Allerdings herrscht in seiner Utopie weder Relativismus noch das Dystopische, sondern eine verkackt schöne Welt, auf die man drauf hauen möchte. Identifikationsfiguren gibt es in der Geschichte nicht; das ist stimmig und bekannt. Raab weist seinen Figuren sozialen Klassen zu, wie es Such-Roboter und Marketingabteilungen tun. Kaufen = Wert = Sinn. Zielgruppengenau analysiert. Dabei nimmt Raab keine Wertung in seinem soziologisch geprägten Roman vor. „Es gibt das Böse in meiner Utopie nicht. Alle sind einfach nur dumm“, unterstreicht der Wiener Autor. Und so lächeln die Menschen einfach nur dumm in Gesprächen, sind freundlich und glatt geworden ohne die Reibungen einer wirklich entspannten Kommunikation. Apps sorgen für die Therapie unterwegs, Bürokratie, vorhersehbare Revolten und Materialismus für Sicherheit in einer Bildungswelt, die nur abgeschirmt von der ausgebeuteten Restwelt existieren kann. „Die Netzwerk-Orange“ durchläuft verschiedene Textgattungen und Parameter des Entschälens und stellt die Frage, was vom Menschen übrig bleibt.

zelter

Joachim Zelter ist im Literaturhaus ein bekanntes Gesicht. Sein aktuelles Werk “ Wiedersehen“ (Verlag: Klöpfer & Meyer) greift, wie der Autor aus Tübingen selbstironisch (?) meint, auf bewährte Narrative, wie „Club der toten Dichter“ zurück. Ein ehemaliger Schüler trifft nach etlichen Jahren seinen in Erinnerung idealisierten Deutschlehrer wieder. Mit von der absurden Wiedersehen-Partie sind eine Menge absurd-witziger Aktionen und Kommunikationen. Die Pointen und der Sprachwitz Zelters funktionieren nicht nur in seinem Vortrag, sondern auch auf den 126 Seiten des kurzweiligen Buches, das mit emotional trickreicher Gesellschaftskritik, psychologischer und sprachlicher Finesse plus dem Extra-Twist (no spoiler) in der allerobersten Liga spielt. Gerade im Rahmen der Lesung mit Raab machte das Match-Up der Autoren mit ihren zwar sprachlichen unterschiedlichen Dispositiven, aber gemeinsamen Fokus auf die gesellschaftlichen Untiefen in der alltäglichen Kommunikation für mich nicht nur Sinn, sondern berührt mich. Danke Sylvia Steffan, danke Literaturhaus.

Das komplette LesArt-Festivalprogramm gibt es unter:
http://www.lesart-festival.de/

Mehr Info zum Literaturhaus Dortmund finden Sie auf:
http://www.literaturhaus-dortmund.de/