Aperçus der Auflösung
Im audiovisuellen Konzert „Insomnia“ im Planetarium Bochum loten Pianist Kai Schumacher und Lichtkünstler Marco Moo Aufführungs- und Interpretationsmöglichkeiten zeitgenössischer Musik neu aus. Die beiden Künstler nutzen die 600 Quadratmeter große Kuppel des Planetariums sowie mit Sound Designer Jonas Gehrmann und einer speziellen 3D-Audiosoftware 60 Lautsprecher für eine musikalische und visuelle Reise durch die Nacht, welche das Publikum aus Liegesesseln erlebt. Nach einem Jahr Vorbereitung gab es im Februar und März erstmalig vier Aufführung von Insomnia. Avancierter Chill Out für das Bildungsbürgertum? Dash (Steffen Korthals) hat sich die Inszenierung näher angesehen.
Wie zunächst ein Konzert unaufgeregt, ohne großes Künstlergehabe und Schwellen vor zeitgenössischer Musik und dem Konzertanten beginnen kann, das beweist Kai Schumacher. Bargeräusche und ein entsprechender Klavier-Klangteppich säuseln im Hintergrund, während das Publikum die Kuppel betritt und es sich bequem macht. Fast unbemerkt hat Schumacher seinen Platz eingenommen und beginnt mit George Gershwins „Sleepless Night (Prelude)“ sein Spiel. Eine gute Auswahl, um in das Konzert mit einem etwas jazzigeren Stück einzuleiten. Die Notenauswahl des Folkwang-Absolventen ist verwoben mit vielen amerikanischen Kompositionen des 20. und 21. Jahrhunderts, die sich Geschichten, Emotionen und Wahrnehmungen von Nacht und Urbanität annehmen.
Nach dem Intro nimmt die nächtliche Reise mit John Cages „Dream“ Fahrt auf und wird im weiteren Verlauf hoch assoziativ und emotionalisierend: von träumerisch, melancholisch über umherstreifend, taumelnd bis düster kauernd in George Crumbs Interpretationen von Theolonius Monks „Round Midnight“ und Benjamin Broenings „Nocturnes/Doubles“. Die 60-minütige Reise bleibt mit „Summer Phantoms: Nocturne“ von Brian Belet weiter der Neuen Musik und teilweise dem Atonalen verbunden, was manche Gäste erwartungsgemäß irritierte. Bochum ist zum Glück nicht Köln, aber auch nicht Basel oder San Francisco. Der musikalische Trip durch die unberechenbaren Ereignisse und nächtlichen Begegnungen mit sich und anderen findet schließlich einen reinigenden wie erhellend friedlich-schönen Abschluss in Bruce Starks „Urban Nocturnes“. Im Konzertverlauf zeigt der 36-jährige Duisburger Ausnahmepianist das ganze Repertoire an klassischer und moderner Spieltechnik, zupft an den Saiten des Flügels, hämmert, klopft und streicht über Klang- und Resonanzkörper, kreiert Rhythmen und Sounds, verdichtet Atmosphären und Wahrnehmungen virtuos.
Der Berliner Lichtkünstler Marco Moo setzt in der visuellen Inszenierung auf Hell-Dunkel-Kontraste. Das Spiel Schumachers gerät leider ein wenig in den Hintergrund, so imposant ist die 360 Grad-Bilderflut, welche sich über das Publikum ergießt. Selten zeigt Moo Gegenständliches und benutzt eher abstrakte Konturen und Verläufe. Diese in ruhigen Passagen warm wabernd wie Amöben, an dissonanten Stellen spitz blitzend bis zum Blenden und Beißen. Moo versteht es vor allem das mystisch Dunkle der Nacht, die den Menschen auf sich, seine Wünsche und Ängste zurückwirft, zu entfesseln und demaskieren. Leitmotive der musikalischen Kompositionen unterstreicht er mit wiederkehrenden Bildskulpturen, verstreichenden Zeitangaben, perlenden Bläschen. Die Ästhetiken ändern sich im Verlauf bis zu einem überraschenden Wahrnehmungsrichtungswechsel in eine sich drehende, leicht old schoolig anmutende Karussellform. Im ersten Drittel der Inszenierung werden körnige Bilder eingespielt, die an eine Mischung aus Abstraktionen von Filmaufnahmen des zweiten Weltkriegs und an so etwas wie die Ursuppe erinnern.Besonders stark und hypnotisch sind die visuellen Eindrücke in den musikalischen Momente der Auflösung, des Dystopischen mit seinen Fratzen des Verlustes, des Zerstörerischen in der Überschreitung im Sinne George Batailles. Hier setzt Moo auch schon mal durchaus verstörend in seinen Bilderwelten auf Grauen und Manie. Ebenfalls nachhaltig beeindruckend ist eine Animationspassage durch ein Areal, das sich wie aufgelöste Urbanität und verfallene Industriestrukturen anfühlt und welche das Publikum, wie bei einem Tauchgang durch ein Wrack, erkundet.
Erwähnenswert ist zudem das punktgenaue Timing zwischen VJ und Pianist, das selbst kleinste Akzentuierungen gegenseitig unterstützt.
Als Zugabe spielt Kai Schumacher eine wunderschöne und eigenständige Interpretation des Breakbeat-Klassiker „Out Of Space“ von The Prodigy, die wiederum auf Max Romeos Reggae-Stück „Chase The Devil“ rekurrierten. Während Schumacher anfänglich noch die schweren Synthie-Linien des Hits akzentuiert, geht der Push in einem umfassenden Verbundensein mittels des euphorischen Pianos auf. Das erinnert an die perfekte, letzte Platte im Sonnenaufgang bei DJ-Sets, Raves und in glücksschwangeren Ozeanen des Klangs. Ein sehr smarter Zirkelschluss des Konzertes – zu dem auch das Zeiss Planetarium Bochum noch beweisen darf, dass es mit seiner technischen Ausstattung zu den weltweit modernsten seiner Art gehört und seine Velvet-FullDome-Projektion mit dem Sternenbild unserer Milchstraße demonstriert.
Das Ambiente des denkmalgeschützten Planetariums, welches trotz hochmoderner Technik speziell mit seiner Innenarchitektur aus den Sechzigern angenehm an das Griffith Observatory aus „Rebel Without A Cause“ mit James Dean erinnert, scheint wie geschaffen zu sein für das, was Kai Schumacher mit der „Insomnia“-Inszenierung will: Wahrnehmungsänderung und Überzeugungsarbeit, dass Neue Musik nicht zu komplex, verkopft und schwer zugänglich ist. Dafür geht er den Weg der großen Emotionen im Breitwandformat. Epic, wie wir auf der Straße sagen. Das mag für Puristen populistisch sein, ist aber druchweg stimmig und wirksam – auch auf musikalischer Ebene. Als episch zu bezeichnen ist vor allem die Leistung Schumachers, dass er die Zuhörer zwar mit nimmt, es dem Publikum auf der anderen Seite auch nicht zu einfach macht, zu einer Position auffordert und eben nicht nur Chill Out bei netter Entspannungsmusik anbietet. Das an sich ist schon ein meisterliches Kunstwerk. „Insomnia“ ist demnächst in Berlin, Jena, Münster und an weiteren Spielorten zu sehen und zu hören.
Weitere Info auf www.kaischumacher.com.[image_with_animation image_url=“1275″ animation=“Fade In“ img_link_target=“_self“]