Geätzte Ethnizitäten
Kay Voges inszeniert mit „Geächtet (Disgraced)“ von Ayad Akhtar eines der maßgeblichen und mit dem Pulitzerpreis prämierten Stücke der Gegenwartsdramatik aktuell im Megastore, der Ausweich-Location des Theater Dortmunds im Schatten des ehemaligen Industriegeländes Phoenix-West. Das kluge Kammerspiel über religiöse und kulturelle Dispositive, überführen Kay Voges und Regieassistent Maximillian Steffan in einen ikonografischen Abstieg in die Seele hinter ethnische Zugehörigkeiten, hinter Kulturdiskurse und Emanzipationsversuche von Religion und Politik. Zu tief, zu verhängnisvoll sind die Zuschreibungen von Politik, Gesellschaft, Kultur in die Identitäten eingeätzt. Zurück bleibt nur der Körper und die Sehnsucht.
Die vier Personen im Mittelpunkt der Inszenierung wähnen sich angekommen in der amerikanischen Oberschicht. Ihr Witz ist fein, die Kommunikation distinguiert, Style und Wissen sind cool und fundiert. Amir (Star-Anwalt mit pakistanischen Wurzeln und Hoffnung auf Beförderung sowie Apostat seiner muslimischen Geburtsreligion/ gespielt von Carlos Lobo) und Emily (WASP, Verfechterin der Trennung von islamischer Kultur und Politik sowie weiße, attraktive Künstlerin mit Hoffnung auf ihre erste eigene Ausstellung / gespielt von Bettina Lieder) sind ein Ehepaar. Das gäbe schon genug Stoff für mehrere Theaterstücke, aber Akhtar schickt noch ein zweites Ehepaar ins Drama: Jory (afro-amerkanische Aufsteigerin aus dem Ghetto, Anwaltskollegin von Amir, die ebenso auf Beförderung hofft) und Isaac (einflussreicher jüdischer Kurator am Whitney-Museum). Alle monotheistischen Religionen sind also versammelt. Für genug Verstrickungen und Diskussionen als ein Update oder eben eine Antithese von Lessings „Nathan der Weise“ ist also die Bühne bereit.
Ayad Akhtar, geboren 1970 in New York, wuchs als Sohn pakistanischer Einwanderer in Wisconsin auf und studierte Schauspiel und Regie in den USA und Italien. Akhtar schreibt für Theater, Film und Fernsehen. In seinem ersten Roman „Himmelsstürmer“ schildert er 2012 die Suche einer Generation junger gläubiger Muslime nach einem Leben in der westlichen Welt. Mit seinem 2012 in Chicago uraufgeführten Theaterstück „Geächtet“ gewann er 2013 den Pulitzer-Preis.
Kay Voges zeigt Theater in seiner treffendsten Variante: zeitgemäß und dringlich in der Themenauswahl, gleichwohl stilistisch mit seinen Trademark-Zutaten versehen, wie popkulturelle Referenzen in Bild und Musik. Die Rückwand der Spielfläche in der zweiten Halle des Megastores wird mit verschiedenen Projektionen bespielt. Die Halle sei „eine richtige Diva, die man richtig ran nehmen muss“, sagt Voges und schafft es, dass das Kammerspiel auch in widrigen Bedingungen funktioniert. Als wiederkehrendes Projektions-Element zeigen Mario Simon und Lucas Pless Jasper Johns „White Flag“ sowie verschiedene Landesflaggen, die auf die kulturellen Verwurzelungen der Protagonisten verweisen. Der bekannte Bochumer Folk-Pop-Künstler Tommy Finke, der jetzt unter dem Synonym T.D. Finck von Finckenstein als Musikexperte in die Fußstapfen von Paul Wallfisch am Schauspiel Dortmund tritt und für die Musik im neuen Adolf Winkelmann-Film „Junges Licht“ sorgt, haut mit The Cure „Killing An Arab“ auch noch wuchtig einen Song kontrovers platziert heraus. Während die ausgezeichnete Kostümauswahl von Mona Ulrich auf den Upper East Side-Statur der Figuren verweist, deindivuiert die Maske Akhtars Figuren als Menschen mit gleichem, weißem Gesicht, ungeachtet ihrer Hautfarbe. Durch rote Augenlinsen wirken Amar, Emily, Isaac und Jory wie Werwölfe, die durch Kunstwelt, Upper Class, Wallstreet und Broadway in Gedanken der Zuschauer streifen. New York als vermeintlicher Nabel der Welt. Die Bestie lauert im Inneren der Menschen überall. Das ist selbstredend kein neues Thema – und das muss es auch nicht. Seit Jahren werden an der Schnittstelle von Körper, Raum, Kultur und Politik am Scharnier der Identität Diskurse geführt, nur bekommen diese durch eine Welt und Gedanken in Flammen eine besondere Aktualität. Schauspielerisch setzen die vier Hauptakteure dies stark um, wobei Carlos Lobo als Amir sichtlich eine stand-out-performance arbeitet. Bettina Lieder und Frank Genser sind klasse besetzt und spielen auf ihrem gewohntem Champions-League-Niveau mal surreal, dadaistisch, mal verletzlich und offen an der schmalen Grenze zur Farce.
Gleichwohl verlässt die Handlung nie die Wohnung des Anwalts und der Künstlerin. Aber das Dargestellte passiert: überall und jederzeit. Daran läßt der Stoff keinen Zweifel. Das Drama „Disgraced“ von Ayad Akhtar ist ein starkes Werk, dass trotz seiner Konstruiertheit und Konventionalität durch fein geschliffene Dialoge und scharf gezeichnete Psychologien der Figuren überzeugt. Der Dortmunder Inszenierung ist es zu verdanken, dass der leider sonst fast überall so oft genutzte pädagogische Moralhammer im Bio-Zuhause gelassen wird. Text und Inszenierung holen ein breites Publikumsspektrum ab. Zuschauer können anknüpfen an den grotesk dargestellten erlernten Herkunftsreferenzen, sozialen Rollen/sozialen Posen und Situationen einer Bussi-Gesellschaft, von Small Talk-Absurdia beim Essen, in der Kultur- und Wirtschaftswelt, Elfenbeinturmgewichse, beruflichen Zielen und dem Wunsch nach Liebe in Beziehungen, Enttäuschungen sowie Machtspielen, bei denen es keinen Gewinner geben kann, können anknüpfen an die Motive Alleine- und Fremdsein, Verlust und Suche. Voges und Steffan gelingt es dabei, dass Akhtars Figuren nicht zu paradigmatisch herüber kommen. Bei aller Überhöhung bekommt der Zuschauer einen tiefen Einblick und vielleicht sogar Verständnis in das Fühlen und Handeln der Figuren, was bei dem komplexen Thema gar nicht so einfach zu vermitteln ist. Das erste Drittel der Inszenierung benutzt die Überhöhung als Stilmittel. Das Over-Acting, übertriebene Gestik und Mimik, sorgen zeitweilig für Schmunzeln und auch für manchen Release in der Ernsthaftigkeit des Stücks, verkürzen und verdichten die Handlung des Kammerspiels, lassen im Kopf des Zuschauers Bilder zusammenlaufen. Auch wenn das Kernstück von „Disgraced“ das Zusammentreffen der beiden Ehepaare ist, so ist dieser Part nur eine logische Konsequenz aus dem zuvor dargestellten Aufeinandertreffen der Akteure. Hier liegt die besondere Stärke der Inszenierung, wie Voges – zum Beispiel – die Beziehung von Amir und Emily inszeniert oder nachfolgend ironisch und unterhaltsam das Aufeinandertreffen von Kurator Isaac und Künstlerin Emily gestaltet. Allein für die darin verborgenen „Wahrheiten“ lohnt sich der Theaterbesuch.
„Geächtet (Disgraced)“ lässt zudem unterschiedliche Lesarten zu, windet sich aus einfachen Zuweisungen heraus. So ist das Leben wohl und die finstre Sachlage des Themas ganz sicher. Die existentiellen Fragen um Heimat, Zugehörigkeit, Schutz, Liebe, Überleben, Selbstkritik und Selbstachtung, falsch verstandener Emanzipation und Sich-Helfen kommen hier auf die Bühne. Neben Religion und Politik geht es auch um eine Diskussion von Moderne und Vormoderne, um verschiedene Überzeugung zu Ego, Beziehungen, Kollektiv und dem großen Ganzen. Und um das Entwickeln einer Idee, wie Zerstörung verhindert und Zusammenleben machbar wäre. Das Stück wirf viele individuelle wie philosophische Fragen auf und rüttelt an Positionen wie Überzeugungen. Und dies auf eine Art und Weise, welche man/frau so schnell nicht vergessen wird. Intensiver stuff. Dass Dortmund auf der Deutschlandkarte als Theaterstadt seit Voges groß markiert ist und bleibt, dafür sorgt der Kloppo des Schauspiels mit subkulturellem Touch auch in dieser grandiosen Inszenierung, die noch samstags, am 2. April, 23. April, 30. April, 7. Mai und 21. Mai ab jeweils 19.30 Uhr im ehemaligen BVB-Megastrore an der Felicitasstraße 2 in Dortmund zu sehen sein wird. Nach Umbau des Schauspielhauses in der Innenstadt soll im Dezember 2016 zurück in die Innenstadt mit weiteren, neuen Inszenierungen gehen.
Zusätzliche Info: http://www.theaterdo.de/detail/event/16880/.