Koteletts und Liebe mit Holly Herndon im Dortmunder U

Eine der wichtigsten Personen zeitgenössischer Musik für alle mit einem Gratis-Konzert im Dortmunder U? Eine ziemliche Sensation, die das Medienwerk NRW und der HMKV am Samstag, 14. November, auf die Beine gestellt haben. Holly Horndon spielte zuvor im Berghain, auf dem Sonar-Festival etc. und ist eine der wichtigsten Komponisten, Klangkünstler und Musiker der heutigen Zeit. Fabian Saavedra-Lara liefert nach dem „New Industries Festival“, der „E-Culture Fair“ und etlichen anderen Veranstaltungen im Dortmunder U und dem Hartware MedienKunstVerein (HMKV) ein Meisterstück ab mit der Organisation der Konferenz „Every Step You Take – Kunst und Gesellschaft im Datenzeitalter“ und dem Booking von Holly Herndon. Konferenz sowie Konzert sind für die Besucher nach Anmeldung gratis.

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Programmheft „Every Step You Take – Kunst und Gesellschaft im Datenzeitalter“

Inhaltlich knüpft das Konzert und auch das Gesamtwerk der charismatischen 35-jährigen Künstlerin aus Kalifornien bestens an die vom HMKV im Dortmunder U und vom Medienwerk.NRW als Konferenz-Veranstalter dargestellten Themen an: Technologie und Identität, Maschinen und Stimme, digitale Inszenierungen des Selbst, Materialität von Daten, Sichtbarmachung und Verschleierung als künstlerische Praxis, Überwachung und Subversion, Körper und Emotion in der digitalen Gesellschaft. Holly Herndon benutzt ihre Stimme, um daraus in elektronischer Verfremdung (Filter, Reverse-Effekte, Delay, Echos, Loops, diverse Modulationen etc.) neue Sounds zu kreieren. „Technologie ist dabei weder schlecht noch gut, sie ist eine Erweiterung der menschlichen Gedanken“, stellt Herndon fest.

Colin Self_front_01_medienwerk.nrw HMKV © Andrea Eichardt Colin Self, special guest, Konzert im Rahmen der Konferenz: Every Step You Take, medienwerk.nrw in Kooperation mit HMKV © Andrea Eichardt, www.hmkv.de

Das ist nichts Neues und in der elektronischen Musik sowie in der Pop-Musik, spätestens seit dem regelmäßigen Einsatz von Vocodern und dem unsäglichen Auto-Tune, Standard. Was die Musik von Holly Herndon dennoch speziell macht, das ist der von ihr mitgelieferte philosophische Überbau und die Klangästhetik ihrer Kompositionen abseits vom Stimm-Einsatz. Dadurch dass Herndon ihre Stimme eben nicht als Repräsentation des eigenen Ichs in den Vordergrund der Performance stellt, macht sie eine andere Konfiguration zwischen elektronischer Musik, Maschinen und menschlichen Usern auf. Dabei geht es weniger um eine „Wir sind die Roboter“-Kraftwerk-Attitüde. Herndons Stimme ist gleichwertig mit einer Bassline oder dem Zischeln einer HiHat. Ihre teilweise emotionsgeladenen und intimen Vocals fließen mit in die Maschine ein, scheren sich nicht darum, ob die Stimme denn real oder authentisch ist (siehe Rock, HipHop etc.), eine repräsentative, demokratische oder zuvor unterdrückte Stimme einer Schicht, einer Bewegung, eines Lebensgefühl ist (Folk, Blues, Indie etc.), ein Verweis auf etwas Außermenschliches (R&B etc.) oder auf verlorene Zeit und Unschuld (JPop etc.) ist. Sie ist einfach da, ist ganz sie selbst und taucht ein in die Klänge, die Herndon mit Hackern, Queer- und Netzaktivisten geschaffen hat.

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Die von Medien als „neue Björk“, als „Cyborg-Queen“ sowie „Mutter von Tech-Topia“ unter Veranstaltungstiteln wie „Technospährenklängen“, bei denen sich einem die Fußnägel aufrollen und man befürchten muss, dass gleich Wilfried Trenkler um die Ecke transzendiert, mehr schlecht als recht angepriesene Holly Herndon nun also live im Dortmunder U, dem Leuchtturm mit Minderwertigkeitsproblem. Herndon spielt in einer eigenen Liga, aber auch in der sechsten Etage des Kreativzentrums. Dies in einem cleanen Setting, dass sich von der Club-Umgebung, in der sie sonst eher auftritt, unterscheidet. Vielleicht verändert Herndon deshalb ihr aktuelles Set und spielt weniger clubby und experimenteller, was ich auch in der Annahme eines open minded Kunstpublikums gemacht hätte. Was über die sehr gute Soundanlage (bei einem Track hatte ich das Gefühl fast sehen zu können, wie ein Sub-Bass von Strebe zu Strebe unter der Decke durch den Raum wandert) durch die sechste Etage des Dortmunder U fragil, kirstallin und slick groovt, das ist im Prinzip eine Melange aus Trap, Techno, Acid, Glitch und Drum & Bass, die sich zumeist nicht an die gewohnten Arrangement-Muster hält. Dort wo der Hörer eine Clap erwartet, wird diese nicht wiederholt, Flächen laufen ins Leere usw. Das macht Herndons Musik, neben dem Umgang mit der Stimme und Daten wie Klängen aus dem Internet, für viele spannend. Sie weiß mit den ewig jungen Club-Praxen von Spannung, Versagen und Release zu spielen. Das mit internationalen Konferenzbesuchern und Dortmunder Konzertgästen gemischte Publikum reagiert darauf unterschiedlich. Vielleicht ein Drittel bewegt sich dazu, ein Drittel lauscht mehr oder weniger gebannt, ein Drittel löst sich in Unverständnis auf. Vor allem Letzteres erstaunt, da Holly Herndon auch von der Performance besucherfreundlich agiert.

Holly Herndon_official Holly Herndon, Foto: © Bennett Perez

Mit ihr auf der Bühne ist der Videokünstler Mat Dryhurst, der mit seinen Visuals die Sounds kommentiert, in Bildern Bezug nimmt auf das Dortmunder U, das Medienwerk:NRW, die Konzertbesucher und natürlich auf den Kontext Technik, Daten und Körper, Emotionen. Die beiden am meisten in der Performance gezeigten Objekte sind fliegende Koteletts und das Wort „Love“. Dryhurst wirft ab und an Interaktives ein, in dem er live Zeilen mit Messages in seinen Computer tippt, was auf der Großprojektion als Ersatz für Band-Ansagen für alle sichtbar ist. Außerdem drückt er durch die getippten Zeilen seinen Disrespekt gegenüber der NSA und Respekt für das Dortmunder Publikum aus, kündigt zu Konzertbeginn an, das nun elektronische Musik gespielt werden wird und zwar von echten Menschen. Also alles richtig gemacht, um auch ungeübte Hörer willkommen zu heißen und die für alle bekannten rockistischen Elemente einzubauen. Was den Unmut einiger Besucher in Gesprächen mit mir nach dem Konzert nicht nachvollziehbar macht. Häufigstes Argument ist dabei, dass es zu „technisch“, zu „elektronisch“ gewesen, sei, dass das Einatmen eines Menschen als Sound zu benutzen gar „abartig“ wäre. Wenn Kunst nicht nur schönes Begleitrauschen sein möchte, sondern zeitgemäß, dann bezieht sie natürlich auch Position zum Digitalen, zum „Elektronischen“ in der Gesellschaft und benutzt entsprechende Stilmittel, Positionen und Sprechweisen. Reaktionen wie „abartig“ machen mich ärgerlich und lassen erkennen, dass es elektronische Musik in Dortmund in Bildungsbürgerschichten immer noch schwierig hat, dass demnächst Freibier für viele einfacher zu konsumieren sein wird als ein Weltstar der Musik- und Kunstszene bei einem Gratiskonzert und für doch erschreckend viele Bürger von Hopfenfreunde-City Kunst das ist, was gelangweilte Vorstadtfrauen in ihrer Freizeit machen.

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Aber natürlich ist meine „Umfrage“ nach dem Konzert nicht repräsentativ und schließlich hatten die restlichen zwei Drittel der Besucher Bock. Dass die Musik schon avancierte Clubmusik war, sah man/frau auch an den unterschiedlichen Tanzstilen und körperlichen Reaktionen auf die Beats und Sounds in Kombination mit Holly Herdons teilweise schon fast engelshaften Gesangsschnippseln und im Garage-Style gechoppten Vocals, weshalb es auch schwierig ist dem Gesang einem Neutrum zuzuschreiben. Bei aller Politisierung des Clubs überlässt Herndon den Aspekt Gender-Diskussion auf der Tour zum aktuellen Album „Platform“ weitestgehend dem befreundeten Künstler Colin Self. Er steuert zusätzliche Vocals bei und zeigt Tanzperformances auf der Bühne, unter anderem im „Gender Is Over“-Shirt. Das Konzert mit ohnehin schon vielen epischen Flächen und nahezu sakralen Spannungsbögen erreicht im letzten Tune „Chorus“ seinen Höhepunkt. Interessant, wie Herndon in diesem Zusammenhang gar nicht unüblich zu ganz vielen anderen Musikern, gerade Beats aus House und Techno eher dem Elegischen und Breakbeats aus Trap und Drum & Bass dem Futuristischen zuordnet. Mit ihrem Hit und Durchbruch „Chorus“ in einer noch viel längeren und intensiveren Live-Version als auf der „Chorus EP“ löst Herndon in einem an die vergangenen Innervisions-Zeiten erinnernden House-Stück, inklusive einem Breakdown so schön, dass man vor Angerührtsein in Tränen ausbrechen möchte, die Spannung auf und droppt in den wohl gleichzeitig hellsten und hoffnungsvollsten Moment des Konzerts. Das Dortmunder U als mutige Weltbühne mit einem schwer beeindruckenden Konzert im Rahmen eines Austauschs von lokalen und internationalen Künstlern zu hochaktuellen und wichtigen Themen der Zeit – free for all. So sollte es sein im Turm und so war es an diesem Wochenende. Sensationell!

Weitere Sounds von Holly Herndon und Bilder vom Konzert:
https://soundcloud.com/hollyherndon

https://www.instagram.com/dashdortmund

https://www.facebook.com/steffen.korthals (ab Montag, 16.11.2015, 19.00)