Dortmund, ihr F***** – Poesie und Politik im Glaskasten
Auf der Straße mit dem Dortmunder Kunst-Laster „Truck Tracks Ruhr“
Ein LKW mit verspiegelten Fenstern und herunter fahrbaren Jalousien als Beamerprojektionsflächen wird bei den „Truck Tracks Ruhr“ zum mobilen Zuschauerraum, der in sieben Ruhrgebietsstädten jeweils sieben besondere Orte ansteuert, die von Künstlern mit Audioinstallationen bespielt werden. Während der Fahrt zwischen den Stationen gibt es elektronische Beats live zu hören, die auf die Fahrtroute reagieren, und durch den LKW-Glasrahmen urbane Stellen und Ereignisse anders als gewohnt zu sehen. Zuweilen werden die Jalousien herunter gefahren, um auf ihnen Videokunst oder eine vermeintliche Außenkameraprojektion zu zeigen.
Die Einstiegssituation erinnert an Freizeitparks, Touristenattraktionen, Stadtrundfahrten, Achterbahnen: Polsterungen, Blöcke, Enge, Anschnallen und Motoren an. Dabei geht es weniger um Beschleunigung oder Entschleunigung, vielmehr um einen Flow. Die Wahrnehmung verschiebt sich, wird gleichzeitig konzentriert auf Orte und Menschen sowie auch unschärfer, wenn der Blick verschwimmt zwischen Filmen und Außenaufnahmen und dem, was sich vor den Zuschauern tatsächlich abspielt, nämlich wenn die LKW-Jalousie hochfährt und den Blick frei gibt. Das Vertraute wirkt wie ein Film, unwirklich und durch seinen inszenierten Blick auf das sich zufällig Ereignende, vor der von Außen blickdichten Scheibe, vermeintlich poetisch: Menschen die Einkaufen, Kinder, die auf einem Gedenkstein spielen, vorbei eilende Dealer, Kranführer im Hafen, zwei Kinder, die eine kranke Taube finden und Hilfe rufen.[image_with_animation image_url=“1532″ animation=“Fade In“ img_link_target=“_self“]Viele Orte sind dem Dortmunder und Nordstädtern bekannt: Containerhafenbecken, Skyline, alte Hörder Schule, Tankstelle in Dorstfeld, Industriehalle am Phoenix-See, Treppe zwischen Hauptbahnhof und Fußballmuseum/Bibliothek, Mordkiosk auf der Mallinckrodtstraße. Was Rimini Protokoll gelingt, ist es, die Wahrnehmung zu verändern, anzukoppeln an den Moment. Die individuelle Geschichte, den der Zuschauer mit dem Ort aus seiner Biographie haben mag, wird dabei nicht ausgeblendet. Ein psychologisches Spiel, das bei der Dortmunder Ausgabe der „Truck Tracks Ruhr“ bestens aufgeht. Manchmal ist nicht nur die eigene Lebensgeschichte an die Orte gekoppelt, sondern auch die kollektive. Daran erinnert speziell Jean Peters und Joel Vogels Hörspiel um den sogenannten Dortmunder Kreis, das ein Treffen zwischen Dortmunder Medienvertretern und der Polizeipressestelle sei, um hiernach weniger über Neonaziaktivitäten in Dortmund zu berichten. Zu hören gibt es das Hörspiel mit Blick auf den Kiosk Mallinckrodtstraße, in dem Neonazis brutal gemordet haben. Einfache Antworten verwehrt die Dortmunder Inszenierung, öffnet den Blick immer weiter. Die Orte, die existieren auch ohne die eigene, ohne die gesellschaftliche Geschichte. Eine Dortmund-Dorstfelder Tankstelle in „Quelle“ von Marike Splint und Jonathan Snipes ist halt auch ein Ort, der vor Millionen Jahren existierte, ohne uns, Menschen, Geschichten, Tiere, nur Stille.
Neben Orten/Räumen, Identität, Körper und Politik thematisiert das Künstlerkollektiv Rimini Protokoll zugleich die Inszenierung selbst, die komische Situation des Betrachters von Kunst (oder war es Alltag?) in einem geschützten Glaskasten, der an der dystopischen Stelle des Übergangs von Innenstadt und Hauptbahnhof an einer stadtbekannten Treppe hält. Ein Mikrophon wird nach Draußen gestellt und die Passanten sowie der Ort hörbar. Dann wird die Verspiegelung aufgehoben und der Blick und die Kommunikation auch von Außen zu den Betrachtern möglich. In „Take Me Dortmund, Stop!“ von Danckwart & Kühlein karikiert die Sprecherin das Dortmunder Martketingimage und die Ruhrpottheimatliebe-Huddelei; was soll das ganze Pott-Identitätsdingen eigentlich, das ist gleichzeitig die Frage und sehnsuchtsvolle Suche im Werk hier.[image_with_animation image_url=“1537″ animation=“Fade In“ img_link_target=“_self“]Die Beiträge für den Dortmund-Trip stammen von Marike Splint und Jonathan Snipes (Amsterdam/Los Angeles), Jens Heitjohann (Berlin), Richard Ortmann (Soundsammler aus Dortmund), Jean Peters und Joel Vogel (vom Berliner „Peng! Collective“, das 2016 vom Dortmunder U aus Anrufe bei Geheimdiensten im Rahmen der HMKV-„Whistleblower“-Ausstellung ermöglichte), Gesine Danckwart und Fabian Kühlein (Berlin), Herbordt / Mohren (Stuttgart) und subbotnik (Künstlerkollektiv aus Köln und Düsseldorf). Emotional beeindruckend ist das Video der Filmemacher Loekenfranke, die Menschen aus Dortmund und Bochum intensiv und lange in die Kamera – und quasi in die Augen der Zuschauer – blicken lassen. Kein neues Konzept, aber gut umgesetzt. Wie auch die musikalische Interaktion des Bochumers Rasmus Nordholt, der mit eigenen Produktionen aus UK-Breakbeats zwischen melodischem Drum & Bass, kontemporärer Bassmusik und viel Ambient-Breaks gefühlt aus der Zeit von Warps „Artificial Intelligence“-Sampler und Aphex Twins-Frühphase die Fahrt atmosphärisch untermalt.
Dortmund ist die vierte Tour und wird, wie die anderen sieben Fahrten, vom postdramatischen Theaterkollektiv „Rimini Protokoll“ (Helgard Haug, Stefan Kaegi, Daniel Wetzel) inszeniert, die als junge Überflieger und Stars der Theater-Medienkunstszene gelten können, das internationale bekannteste deutsche Künstlerkollektiv sind und Preise im Abo abräumen (http://www.rimini-protokoll.de/website/de/). Bei der Ruhrtriennale 2014 beeindruckten sie mit „Situations Rooms“ und einem zu durchlaufenden Theaterparcour zum Thema globalisierter Kriege und individueller Verflechtungen. Wiederkehrende Themen ihrer Kunstprojekte sind Raum, Körper, Urbanität, Technik, Identität, Politik und decken damit viele der aktuellen Dringlichkeiten zeitgenössischer Kunst ab.[image_with_animation image_url=“1533″ animation=“Fade In“ img_link_target=“_self“]
Die Fahrten von „Truck Tracks Ruhr #4“ sind in Dortmund noch bis zum 5.11.2016 zu erleben (https://www.theaterdo.de/detail/event/truck-tracks-ruhr-4-album-dortmund/). Danach folgen Mülheim an der Ruhr (30.11.2016 bis 17.12.2016), Bochum (25.01.2017 bis 25.02.2017) und Essen (15.03.2017 bis 08.04.2017). „Truck Tracks Ruhr“ ist eine Produktion von „Urbane Künste Ruhr“ mit verschiedenen lokalen Partnern, wie der Ruhrtriennale und weiteren. Mehr Info gibt es auf www.trucktracksruhr.de.